Aktuelles Rezension Veröffentlichungen

Rezension: Von Drachenfrau und Zauberbaum. Das große österreichische Märchenbuch

Rezension zu Drachenfrau und Zauberbaum

Von Drachenfrau und Zauberbaum
Das große österreichische Märchenbuch
Helmut Wittmann
Anna Vidyaykina
Tyrolia Verlag Innsbruck-Wien
ISBN 978-3-7022-3868-1
29,95 €

1.

Ich schlage das Buch auf, irgendwo mittendrin, und lese: „Es war einmal ein kleines Mädchen. Das hieß Annerl. Mit ihrem Vater und ihrer Mutter lebte sie in einem kleinen Haus am Waldrand.“ Was genau sehe ich da? „Es war einmal ein kleines Mädchen Punkt. Das hieß Annerl Punkt“.

Ich erkenne sofort: Da war ein Erzähler am Werk. Jemand, der weiß, dass gesprochener Text eine eigene Grammatik hat. Kurze, klare und sprechbare Sätze. Alle Märchen im Buch sind in diesem Stil durchgearbeitet worden. Sie sind sprechbar, vorlesbar, erzählbar, kurz: brauchbar. Das war vermutlich nicht wenig Arbeit, und schon dafür kann jeder Leser, jede Leserin dankbar sein. Helmut Wittmann hat die Texte nicht nur zur Hand, sondern sicher auch selbst in den Mund genommen. So wirken sie jedenfalls – erprobt und erzählbewährt. Auf diese Weise lässt er uns an seinem Erfahrungsschatz wie auch an seinem Repertoire teilhaben. Dass es wirklich durch die Reihe lesens- und erzählenswerte Geschichten sind, versteht sich da fast von selbst. 48 Märchen sind es, bei ca. 330 Seiten macht das etwa sieben Seiten pro Geschichte. Eine überschaubare Länge für alle, die eine Geschichte zum Erzählen oder Vorlesen suchen. Wir jedenfalls lesen uns jetzt im Lockdown mit Vergnügen daraus vor, jeden Abend eine Geschichte.

Die Märchen sind nicht regional geordnet, sondern nach Themenkreisen. Jeder Geschichte ist ein kurzer Text zu seiner Herkunft vorangestellt: Aus wessen Mund stammt das Märchen, und wer hat es aufgezeichnet? Was schätzt Helmut Wittmann selbst daran? Meist stehen solche Angaben – wenn überhaupt – im Nachwort, im Anhang oder doch am Ende eines Texts. Hier leiten sie die Geschichten ein. Ich sehe darin eine Verneigung vor der mündlichen Tradition und vor denen, die diese Tradition bewahren und fortsetzen. Alle Erzählenden dürfte das freuen.

2.

Mit der Erarbeitung eines sprechbaren Texts und der Ausformung kurzer und klarer Sätze geht immer auch eine Gefahr einher: Gleichen sich die Texte dadurch an, werden sie im Stil nivelliert? Geht das regionaltypische verloren, bildet sich ein Durchschnitts-Hochdeutsch aus? Sind die Geschichten nur noch durch ihre Herkunftsbezeichnung als österreichisch erkennbar?

Märchen sind ja nicht nur Handlungsbeschreibungen. Sie wirken auch durch ihren Sound. Die Brüder Grimm etwa haben ja einen ganz eigenen Sprachklang entwickelt und damit unsere Hörgewohnheiten geprägt.

Der ‚Schwarzbraune Michl’ wird in dieser Sammlung vorgestellt als ‚gefürchteter Räuber, und zauberkundig ist er obendrein’. In der von J. H. Bünker aufgezeichneten mundartlichen Original-Fassung ist er dagegen ein „gefürchteter Rauber- und Zauberhauptmann’ – was für ein phonetischer Fanfarenstoß!

Ich weiß, das ist schon eine Feinschmeckerfrage, aber alle Bedenken in diese Richtung zerstreuen sich schnell. Das eingangs aufgeführte Märchen vom Hahnengiggerl etwa wird als ‚zutiefst steirisch’ bezeichnet. Der etwas entfernter lebende Leser ergeht sich in (durchaus lustvollen!) Mutmaßungen, was damit wohl gemeint sein mag. Er lernt wunderbare neue Worte kennen, schwatteln, hällstern, patschwaschelnass. Und eine Nichte der alten Kräuterfrau heißt mal eben Simmerl-Müllner-Weber-Keuschn-Kathl-Toni – warum auch nicht? Worterklärungen werden im Übrigen nicht in Fußnoten oder in ein angehängtes Glossar verbannt. Sie sind elegant in den Text eingebunden, ohne dabei den Erzählfluss zu stören. Dem Ganggerl, einer Art Rumpelstilzchen, wird sein Name erst in einem Mundart-Vers entgegengehalten, und als er darauf nicht reagiert, noch einmal in Hochdeutsch,. Erst da kapiert er: Annerl hat die Aufgabe erfüllt und ist erlöst. Das hat einen feinen Humor, der sich so eigentlich durch alle Geschichten zieht. Und nebenbei: Die Heldin wird nur ganz zu Anfang wie oben zitiert als das Annerl eingeführt; ab da und bis zum Ende des Märchens ist sie ‚die Annerl’. Kleinigkeiten? Auf jeden Fall ein Beleg für die Sorgfalt, mit der Helmut Wittmann bei der Erarbeitung seiner Erzählfassungen vorgegangen ist.

3.

Illustrationen sind bei Märchensammlungen immer ein Kapitel für sich. In diesem Buch begleiten Aquarelle von Anna Vidyaykina die Geschichten. Zum Teil sind es ganzseitig angelegte Bilder, teils in den Text eingestreute farbige Figurinen, teils auch nur florale Vignetten. Durch diese Wechsel im Format gewinnt die Illustration insgesamt eine große Leichtigkeit, die von der Transparenz der Aquarelle noch unterstrichen wird.  Wie ein Vorschlag kommen die Bilder dem Betrachter vor: So könnte es ausgesehen haben –  aber vielleicht  auch anders? Sie haben etwas Liebenswertes und passen gut zu den Geschichten und deren Farbigkeit.

Nebenbei:  Der Eindruck von Licht und Leichtigkeit entsteht nicht zuletzt auch durch das Druckbild. Ältere Jahrgänge werden es zu schätzen wissen, dass das Buch lesefreundlich, nämlich in großen Zeilenabständen gesetzt ist.

4.

Es sollte eigentlich selbstverständlich sein, und ist es doch leider immer noch nicht.  Das Buch ist auf FSC-zertifiziertem Papier gedruckt, mit Farben auf Pflanzenölbasis, und mit lösungsmittelfreien Klebstoffen geleimt und gebunden. Produziert wurde es in Österreich und in Tschechien – und zwar in überzeugender technischer Qualität.

Das Buch ist gewichtig, ein Kilo schwer, und gibt dem Leser das Gefühl, da wirklich etwas in der Hand zu haben – einen Schatz von Geschichten, der nur darauf wartet, gehoben und mit vielen geteilt zu werden.

Jörg Baesecke
Pullach b. München im Dezember 2020

www.kleinstebuehne.de

0 Kommentare zu “Rezension: Von Drachenfrau und Zauberbaum. Das große österreichische Märchenbuch

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert