„Sieh, damit wir sehen!“ Eine Geschichte des Geschichtenerzählens
von Johannes Merkel
Der Erzählverlag, Berlin, 2021
Rezension von Janine Schweiger
…ich sehe: keine Frau auf dem Cover. Trotzdem ist das Buch in Form, Bindung und Layout erstmal ein Handschmeichler. Quadratisch, Hardcover und zum Versand in mehrere Lagen dünnes Papier gewickelt, mit dem Aufkleber „mit Liebe verpackt“ versiegelt.
Sieben Kapitel nehmen die Leserin einmal um die Welt, hier wird die Geschichte des Geschichtenerzählens ausserhalb von Europa knapp, aber sehr facettenreich dargestellt.
Dann folgen zwei Kapitel, die sich mit der Historie des Erzählens in Irland und dem restlichen Europa befassen. Schliesslich noch zwei Kapitel, welche sich dem Skelett und dem Nutzen des Erzählens widmen.
Eine wahre Fundgrube ist das umfassende Literaturverzeichnis, das zum Vertiefen persönlicher Interessen einlädt.
Der Bildnachweis umfasst fast neunzig Posten und lässt erahnen, welche Fülle und welcher Reichtum an Bildern in diesem Buch zu finden ist. Hier erahnt man schon: in diesem Buch wird die Welt des mündlichen Erzählens nicht nur mit Worten, sondern auch mit Bildern global aufgeblättert. Wie schön! Die meisten Abbildungen sind in Schwarz-Weiß, aber jede geübte Erzählerin, nebst ihren männlichen Kollegen, ist sicherlich geübt darin, die nötige Farbenpracht selbst zu imaginieren.
Obwohl ich das vorangegangene Buch „Hören.Sehen. Staunen.“ aus dem Jahr 2014 mit größter Freude durchgeackert habe, schafft es auch diese handsame Version, mir wieder die Historie und Entwicklung von Erzählerinnen und Erzählern aller Kulturen und Länder nahe zu bringen.
Keine Chance, nur mal eben so durchzublättern, vor allem das Kaleidoskop der Bilder lädt immer wieder zum verweilen, festlesen, zurückblättern ein; eine Quellle der Inspriation und der Begeisterung, für den eigenen Berufsstand, findet sich immer wieder.
Aus Sicht einer durchaus erfahrenen Erzählerin ist das Kapitel „Tendenzen, Strukturen und Schemata“ ein Highlight. Selten hat mir ein Text so oft ein Kopfnicken, ein lächelndes sich wiedererkennen und jede Menge Anregungen geliefert, auch für meine Arbeit als Ausbilderin im Bereich des mündlichen Erzählens.
Das vorletzte Kapitel „Zur Wiederbelebung einer alten Kunst“ bündelt all die Zweifel und Probleme, die das Handwerk des mündlichen Erzählens so mit sich bringt. Und es zeigt auch schon die Haltung des Autors, das mündliche Erzählen in unserer Zeit als „Handwerk“ einzuordnen und es nicht zu den Künsten zu rechnen, zumindest nicht zu den hohen oder großen Künsten, allenfalls zur Kleinkunst. Auch wenn dieses Kapitel für enthusiastische Neueinsteigerinnen, und auch für männliche Berufsanfänger, wie eine kalte Dusche wirken muss. Schadet ja nicht, soll ja gesund sein. Aber auch für erfahrene Erzählerinnen und Erzähler könnte an diesem Punkt eine lebhafte und kritische Diskussion beginnen.
Aber in dem letzten geheimen[1] Kapitel „Was du kannst, das kann ich auch“ schlägt Johannes Merkel eine Brücke für alle, die sich bescheiden können. Auf das was geht und was wirklich gebraucht wird, jetzt, heute, so aktuell wie noch nie. Und solange es Menschen gibt, die gerne gemeinsam in einem Raum zur gleichen Zeit zusammen sind. Friedlich, positiv in die Zukunft schauend und sich ohne Pathos, oder Verklärung, an das erinnern können was war oder wahr ist.
Janine Schweiger, Berlin/Stralsund , 13. März 2022
[1] es ist nicht im Inhaltsverzeichnis zu finden, aber im Buch ab S. 365
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