Eine Handspanne im Quadrat mit blauen Schriftzeichen auf weißem Grund, so liegt er im kompakten Einband vor: Michl Zirks Grundkurs zum freien mündlichen Erzählen, erschienen im Erzählverlag, September 2020.
Der sachlich-moderne Schrifttyp und die geometrischen Formen mit gelbroten Bienenwaben, Kartenkaros, Pünktchen und kleinen Dreiecken auf der Titelseite erinnern an Reformideen der Bauhaus-Ära der 20er-Jahre. Beim ersten Aufblättern des Buches fällt ein dunkelfarbiges Foto des Autors als Erzähler ins Auge und der Hinweis zur Wahl einer geschlechtssensiblen Sprache, die sich im Lauf der Lektüre als ein fast durchgehend angewandtes generisches Maskulinum entpuppt.
Auf knapp hundert Seiten vermengt Zirk zum Teil kurzweilig formulierte Anregungen zum strukturierten Erarbeiten einer frei erzählten Geschichte mit Textbeispielen, Übungen und Tipps zu Präsentation und Vermarktung. Ein Mangel an praxisnahen Lehrbüchern animierte ihn, seine langjährigen Erfahrungen auf subjektive Weise zu präsentieren: “Es ist nicht die einzige Methode, es ist meine Methode.“
Während der Autor im Vorwort das freie, mündliche Erzählen vom „Storytelling“ abgrenzt, das er als narrative Managementmethode bezeichnet, empfiehlt er am Ende seines Buches unter der Rubrik Spezialisierung drei Bereiche entsprechend der angelsächsischen Aufteilung „storytelling as performing art“, „applied storytelling“ und „storytelling as healing art“.
Im Raum der Mündlichkeit verweist Zirk auf die kurze Phase der Konzentration, in welche Menschen in jeglicher Sprache ihre Aussagen rhythmisch teilen (Drei-Sekunden-Fenster) und fordert für das freie mündliche Erzählen: kurze Sätze ohne indirekte Rede und ohne lange Beschreibungen. Er warnt vor Verfremdungseffekten in der Figurencharakterisierung und plädiert dafür, in der Wortwahl einen gemeinsamen Verstehenshorizont sicherzustellen.
Teil A gibt Hinweise zur Ausarbeitung einer Geschichte, deren Rohversion mit dem Rohbau eines Hauses verglichen wird. Architekt Zirk bezieht sich auf Aristoteles und Gustav Freytags „Technik des Dramas“ als theoretisches Fundament. Dabei wird die Ausgangsposition in Abweichung von Freytag als Expedition bezeichnet (anstelle von Exposition) – ein treffender Lapsus, der die Heldenreise impliziert.
Drei Erzählschritte (Anfang-Mitte-Ende) gelten dem Autor als dramaturgisches Mindestmaß, dazu empfiehlt er, die mnemotechnische Hand mit Stichworten zur Geschichte zu belegen. Wenn der Spannungsbogen stimmt und dieses Skelett mit (Erzähl-)Fleisch umgeben zu einer Schöpfung im Augenblick wird, gibt es kein Blackout.
In Teil B geht es um die Aneignung einer Geschichte durch die kognitive Betrachtung der Rohversion. Bei der detektivischen Suche nach dramaturgischen Fehlern im Ablauf werden z.B. Erzählsprünge aufgedeckt und ein Subtext rekonstruiert. Auf der Ebene der inneren Bilder unterscheidet der Autor drei Ebenen der Imagination: eine lokale, eine physische und eine psychische. Minutiös und anschaulich beschreibt Zirk als Beispiel die beiden Antagonisten des Schwanks „Bauer und Teufel“ in ihrer Umgebung und entwickelt daraus technische Handlungsanweisungen für die Umsetzung auf der Bühne. Unterschiedliche Temperamente bestimmen Emotion und Aktion der Figuren und transportieren die vom Erzähler intendierten Bilder in die Köpfe des Publikums. Nach jedem Kapitel folgen Übungsvorschläge und eine kurz kommentierte Literaturliste zur Vertiefung der angeführten Stichpunkte.
In Teil C steht die Präsentation mit entsprechendem erzählerischen Handwerkszeug im Mittelpunkt. Zirk präzisiert, dass der Erzähler kein Schauspieler sei, da er durchwegs ohne „vierte Wand“ Kontakt mit dem Publikum halte und Aktionen lediglich andeute; eine erhöhte Bühne stelle kein optimales Erzählambiente dar. Gleichwohl fordert der Autor einen gezielten Einsatz von Stimme, Mimik und Gestik und das Einüben der Geschichte mit Probenhelfern vor dem öffentlichen Auftritt.
Teil D widmet sich der Zusammenstellung eines Programms. Steigt Zirk bei Kinderprogrammen ausnahmsweise mit einem Objekt ein (z.B. dem Originalstein aus dem Märchen Steinsuppe), so bevorzugt er für ein anderes Publikum die Trias poetisch-dramatisch-heiter oder konterkarierende Geschichten. Musik dient vorab und zwischendurch zur Publikumsberuhigung bzw. zum Nachsinnen oder als leitmotivische Komponente zur Figurenzeichnung. Der Autor plädiert für eine kontinuierliche Repertoire-Erweiterung, ohne sich Moden anzubiedern. Er selber liebt alle seine Geschichten wie seine eigenen Kinder. Bezüglich der Quellenlage empfiehlt er das Regelwerk des VEE zur Weitergabe von Geschichten.
Teil E nimmt das Publikum ins Visier. Zirk greift das bereits im Vorwort erwähnte Sender-Empfänger-Modell auf und fokussiert auf situative oder inhaltliche Störfaktoren, welche den Kommunikationsfluss erschweren. Er verspricht, dass mit seiner Methode der Aneignung von Geschichten ein flexibel einsetzbares Erzähl-Repertoire erarbeitet wird, das den Anforderungen der unterschiedlichen Zielgruppen sowie den technischen Herausforderungen standhält.
Teil F benennt in wenigen Zeilen notwendige Formen der Organisation, die für das berufliche Erzählen relevant sind wie Werbung, Honorar, Vertrag, Steuer, Versicherung, Sponsoring und Vernetzung mit ein paar nützlichen Internetseiten.
Der Grundkurs ist eine salopp geschriebene, niedrigschwellige Lektüre für Neueinsteiger. Michl Zirk plaudert aus dem Nähkästchen und gibt persönliche Einblicke in seine Erzählwerkstatt. Er lässt die Leserschaft teilhaben an seinem Erfahrungsschatz und macht Mut zum Geschichtenerzählen nach individuellem Zuschnitt. Auch wenn er die blühende Erzähllandschaft, welche seit ihrem Revival vor ca. dreißig Jahren ständig wächst, nur am Rande erwähnt und stattdessen Erinnerungen an seinen Latein-Unterricht mit Sprüchen für jede Lebenslage zitiert – sei´s drum. Er hat mir mit seinem Werk ein paar befruchtende Recherche-Stunden, Leseanregungen und Diskussionen beschert. Möge es allen so ergehen, die das Buch zur Hand nehmen.
Silvia Freund mit freundlicher Unterstützung von Dietmar Lenz
Dezember 2021
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